Childers, J. W., and D. C. Parker, eds. Transmission and Reception: New Testament Text-Critical and Exegetical Studies. Texts and Studies, 3d series, no. 4. Piscataway: Gorgias Press, 2006. Pp. xxiv+327. ISBN 1-59333-367-6. $76.00 USD.

1. Die insgesamt 16 Beiträge des vorliegenden Band verstehen sich als Festschrift aus Anlass des 65. Geburtstags von Carroll Duane Osburn am 2. September 2006. Osburn, der bis 2004 Carmichael-Walling Distinguished Professor für Neues Testament an der Abilene Christian University war, beschäftigte sich in seinem wissenschaftlichen Oeuvre immer wieder mit Fragen der Textgeschichte des Neuen Testaments. In diesem Zusammenhang hervorzuheben ist etwa die im Jahr 2004 erschienene ausführliche Monographie zum Text des Apostolos bei Epiphanius von Salamis, Studien zu textgeschichtlichen Problemen des Judasbriefs, zu den griechischen Lektionaren des Neuen Testaments oder zur Rolle von Kirchenväterzitaten in der neutestamentlichen Textkritik. Demgemäß nehmen textkritische Studien auch im vorliegenden Band eine wichtige Rolle ein. Ich konzentriere mich im Folgenden auf einige Arbeiten, die mir besonders interessant erscheinen.

2. Larry Hurtados Beitrag erarbeitet die Bedeutung des zweiten Jahrhunderts als die entscheidende Periode für die Entwicklung des Neuen Testaments. Dabei konzentriert sich Hurtado auf drei besonders wichtige Prozesse: -- Er stellt die Frage, inwiefern das 2. Jahrhundert als eine Phase besonders freier Textüberlieferung anzusehen sei. Vor dem Hintergrund der Publikation neuer neutestamentlicher Papyri aus Oxyrhynchos und der damit verbesserten Quellenlage kommt Hurtado u.a. zu dem folgenden Schluss:

[T]hese fragments . . . reinforce the impression given by the New Testament papyri from 200 CE and a bit later that there were varying scribal tendencies operative in the textual transmission of the New Testament in the second century. That is, the recently-published evidence is consistent with the view that the second century was a time of somewhat diverse textual dynamics . . . . Some of the newly published fragments reflect a concern for a 'high degree of accuracy,' and others indicate a freer readiness to adapt the text, exhibited especially in stylistic changes, harmonizations, higher numbers of accidental changes, and even occasional changes motivated by doctrinal concerns [S. 7-8].
Interessant scheint mir zudem die Aussage Hurtados, dass zumindest einige der frühesten Handschriften deutliche Zeichen aufwiesen, die für eine liturgische Verlesung der in ihnen erhaltenen Texte spreche -- ein, wie Hurtado betont, wichtiger Faktor für das Verständnis der Überlieferung der Texte: Einerseits ließe sich damit besser erklären, warum die Texte so häufig kopiert wurden und so weit verbreitet waren, andererseits würden so auch die verschiedenen kleinen stilistischen Veränderungen, die die Texte verstehbarer machten, besser nachvollziehbar. Damit weist Hurtado sicherlich auf einen wichtigen Punkt hin. Es stellt sich aber die Frage, ob dieser Faktor für alle "neutestamentlich gewordenen" Schriften in gleicher oder zumindest vergleichbarer Weise eine Rolle spielte. -- Daneben verweist Hurtado auf die Bedeutung der im zweiten Jahrhundert entstehenden Sammlungen von Schriften, aus denen später das Neue Testament entstand. Anders als Hurtado allerdings würde ich zögern, die Entstehung einer mehr oder weniger "festen" Vierevangeliensammlung schon in das erste Drittel des 2. Jahrhunderts zu datieren. Ich halte in diesem Zusammenhang sowohl das in der Literatur gerne herangezogene Zeugnis des Papias von Hierapolis (vgl. auch Norelli 2005) als auch das des Diatessaron (vgl. auch Petersen 2005), wie auch des "unbekannten Evangeliums" auf P.Egerton 2 für problematisch. -- Einen wichtigen Impetus für die spätere Entstehung des neutestamentlichen Kanons sieht Hurtado in der liturgischen Verlesung von Texten. Dabei seien bereits die Paulusbriefe als "liturgische Texte" verfasst "to be read out in the gathered assemblies to whom they were originally sent, and were 'kitted out' with liturgical expressions to make them fit this setting more readily, especially the well-known letter opening and closing expressions" (S. 25) -- der Begriff "liturgisch" muss m.E. in diesem Zusammenhang aber sehr weit gefasst werden.

3. Im Anschluss an Carroll Osburns Beitrag zum Status Quaestionis in der Erforschung der Bedeutung der griechischen Lektionare für das Verständnis neutestamentlicher Textkritik fordert Klaus Wachtel erneut, dass diese Textzeugen besser zugänglich gemacht werden. Anhand von Beispielanalysen zeigt er Aspekte der Bedeutung der Lektionare für die Entwicklung auch des neutestamentlichen Textes im ersten Jahrtausend auf. -- David C. Parker stellt Manuskripte des Johannesevangeliums mit hermeneiai vor und stellt die Frage, inwiefern diese Handschriften eine Rolle bei der Edition des vierten Evangeliums spielen können. Parkers Ergebnis ist differenziert: Die entsprechenden Handschriften erwiesen sich als wertvolle, wenn auch fragmentarische Zeugen für die Entwicklung des johanneischen Textes; aufgrund ihrer Aufmachung und Funktion aber zeigten sie sich weniger anderen Handschriften mit kontinuierlichem Text verwandt als Materialien wie etwa Amuletten, die häufig (zu Unrecht) vom textkritischen Entscheidungsprozess ausgeschlossen werden. Während Curt Niccum die These kritisiert, den äthiopischen Text der Apg deren "westlichem Text" zuzuordnen, verweist Michael W. Holmes auf die bleibende Bedeutung von Günther Zuntz's Werk zum Text der Paulusbriefe.

4. Barbara Aland stellt erneut die viel diskutierte Frage, ob und inwiefern die Schreiber früher neutestamentlicher Handschriften als Interpreten des Textes zu verstehen seien. Aland geht von der Beobachtung aus, dass sich in den frühesten Handschriften des Neuen Testaments nur recht wenige Fehler finden,

die einen Gestaltungswillen des Schreibers erkennen lassen . . . . Schreiber, so kann man daraus entnehmen, wollen kopieren und damit ihre handwerkliche Berufsaufgabe erfüllen. Nur in dem engen Rahmen, der damit gegeben ist, kann man folglich erwarten, Spuren von je eigener Aneignung des zu kopierenden Textes durch den Schreiber in seinem je besonderen Kontext zu finden [S. 114].
Die Autorin konzentriert sich im vorliegenden Beitrag zunächst auf Singulärlesarten auf P66, von denen zumindest einige als Zeichen bewusster Deutung des Textes durch den Schreiber angesehen werden können. Insgesamt aber mahnt Aland zur Vorsicht: "[I]m ganzen aber handelt es sich doch um recht wenig Material, so dass es geboten ist, vorsichtig zu sein und als erste Absicht des Schreibers weiterhin anzunehmen, dass er lediglich kopieren will, wobei es ihm dann gelegentlich unterläuft, dass der Text so auf ihn wirkt, wie es seinen Interessen und seinem Verständnis entspricht" (S. 118). Aland hat mit ihrer Beurteilung sicherlich Recht, obwohl man sich die Frage stellen könnte, ob die (methodisch zu Recht vorsichtige) Suche nach Singulärlesarten im Text tatsächlich alle Fälle aufdecken kann, in denen der Schreiber bewusst in seine Vorlage eingriff. Interessant ist auch Alands zweites Beispiel, P46: Hier zeige sich, "dass der Schreiber zwar eine sorgfältige Kopie herstellen wollte, aber seinem Text weder in der Orthographie gewachsen war, noch, was schwerwiegender ist, den Sinn dessen, was er kopierte, angemessen erfassen konnte" (S. 121). Die Antwort fällt also durchaus differenziert aus -- und leider bietet Aland nur einen Querverweis auf P72: Gerade im Text des Judasbriefs (aber auch in 1 und 2Petr) weist dieser Zeuge doch einige sehr interessante Lesarten auf, die sich durchaus als Zeichen der Textinterpretation erweisen lassen. Hier aber ist vielleicht auch zu berücksichtigen, dass P72 Teil eines Sammelcodex mit ganz verschiedenen Texten ist und zudem nicht sicher davon ausgegangen werden kann, dass der entsprechende Schreiber des Judasbriefs diesen auch als kanonische Schrift angesehen hat.

5. Im Anschluss an seine bisherige vielfältige Arbeit zum Junia/Junias-Problem in Röm 16,7 stellt Eldon Jay Epp eine Reihe sekundärer Varianten innerhalb dieses Verses vor, während Gordon D. Fee textliche und inhaltliche Probleme von Röm 8,11 diskutiert.

6. Der zweite Teil des Bandes stellt unter der Überschrift "Reception" recht unterschiedliche Arbeiten zusammen, deren Bandbreite von epigraphischen Aussagen zur Artemis von Ephesus und ihrer Bedeutung für das Verständnis von Apg 19,27 bis hin zur Rezeption des Hebräerbriefs bei Clemens von Alexandrien reicht.

7. Sicherlich sind nicht nur die Beiträge des ersten Teils interessant, trotzdem gewinnt der Band vor allem aufgrund seines textkritischen und textgeschichtlichen Schwerpunkts sein Profil. An beiden Teilen sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von internationalem Rang beteiligt, vor allem aber bei der Lektüre des ersten Teils entsteht ein guter Einblick über die vielfältigen und doch miteinander zusammenhängenden derzeit diskutierten Fragestellungen des Fachgebiets neutestamentlicher Textforschung. Gerade vor diesem Hintergrund ist der Band empfehlenswert.

Bibliography

Norelli, E. 2005. "Papias de Hiérapolis a-t-il utilisé un recueil 'canonique' des quatre évangiles?" In G. Aragione, E. Junod, and E. Norelli, eds., La canon du Nouveau Testament: Regards nouveaux sur l'histoire de sa formation, 35-86. Geneva: Labor et Fides.

Petersen, W. L. 2005. "Canonicité, autorité excclésiastique et Diatessaron de Tatien." In G. Aragione, E. Junod, and E. Norelli, eds., La canon du Nouveau Testament: Regards nouveaux sur l'histoire de sa formation, 87-116. Geneva: Labor et Fides.

Tobias Nicklas
Radboud Universiteit Nijmegen

© TC: A Journal of Biblical Textual Criticism, 2006.